1 Einleitung



Ein theoretisches Programm der historischen Forschung, die Gesellschaftsgeschichte, stellt Wehler vor (1). Diese Gesellschaftsgeschichte wird von Habermas als ein "komparativ ausgerichteter, typologisierend verfahrender, vor allem sozialgeschichtlich informierter Forschungsansatz" (2) bezeichnet. Die Kritik von Habermas an der Gesellschaftsgeschichte (3) scheint am Gegenstand der historischen Forschung vorbeizugehen.

Die Arbeit versucht sich einem wesentlichen Aspekt der Gesellschaft zu nähern. In den Blick des Betrachters sollen die Wünsche, Hoffnungen und Träume der unterbürgerlichen Schichten, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Verwirklichung ihrer Ideale sowie die Rekonstruktion des Bezugsrahmens ihrer Abhängigkeiten bzw. ihres Unterworfenseins unter Herrschaft, gerückt werden. Die Lebenswelten unterbürgerlicher Schichten (4) werden mit Hilfe einer monographischen Detailforschung für ausgewählte Aspekte näher beleuchtet. Die Arbeit versucht, den gesellschaftsgeschichtlichen Forschungsansatz nutzend, ein Schwergewicht auf den "Blick von unten" zu legen. Mit Hilfe der bearbeiteten Quellen sollen Aspekte des Alltages einer Gruppe der Unterschichten, der Delinquenten, dargestellt werden. Die statistische Auswertung der Häftlingslisten der Leuchtenburger Anstalten gibt vielfältige Auskünfte über die Häftlinge, ansatzweise auch über deren Lebenswelten.

Neben den "klassischen" Feldern der historischen Forschung, wie der Wirtschafts- Politik-, Sozial-, und der Kulturgeschichte, soll diese Arbeit einen statistischen Beitrag zur historischen Kriminalitäts- und Unterschichtenforschung liefern.

Die Wahl einer gesellschaftsgeschichtlich orientierten Methode ermöglicht die angemessenste Diskussion der Quellen, die dieser Arbeit zugrunde liegen. Die Arbeit will nicht zur historischen Theoriebildung beitragen, sondern ist eine monographische Quellenuntersuchung, die dem gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz als Zielpunkt, der nicht erreicht wird, verpflichtet ist. Die "vier Säulen" der Gesellschaftsgeschichte (Wirtschafts-, Politik-, Sozial- sowie Kulturgeschichte) betrachte ich in der Arbeit vorrangig aus dem Blickwinkel der unterbürgerlichen Schichten. Vertikale und horizontale Konflikte in der Gesellschaft sind mit diesem Modell gut herauszuarbeiten.

Die Geschichte aus der Gesellschaft heraus zu interpretieren, ermöglicht die Entwicklung eines Bildes einer historischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Lebenswelten, deren Normen zum Teil erheblich differieren. Dies ermöglicht, den Zustand und das innere Gefüge einer Gesellschaft zu beleuchten (5).

Die Grenzen des von der Gesellschaftsgeschichte verfolgten theoretischen Ansatzes zeigt Lothar Gall auf (6). Gall meint, daß Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte "durchaus herkömmliche Wege" (7) beschreitet. Auch wenn Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte "eine bedeutende, auf vielen Gebieten bahnbrechende wissenschaftliche Leistung" (8) ist, könne man nicht von einem grundlegenden Perspektivenwechsel, ganz zu schweigen von dem vielbeschworenen sogenannten Paradigmawechsel sprechen. (9) Gall fragt, was jene Gesamtgesellschaft denn konstituieren würde und meint, die Antwort bei Wehler nicht zu finden. Hier scheint der Rezensent zu irren, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die soziale Struktur, die politische Verfaßtheit und ihr kultureller Zusammenhang konstituiert eine Gesamtgesellschaft. Daß Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte "weder Zürich noch Wien" (10) kennt, ist sicher nicht damit zu begründen, daß er "es vermeidet, seinen Gegenstand über das Abstraktum 'Gesamtgesellschaft' hinaus klar zu benennen" (11). Den Begriff der Nation hierfür einzuführen ist nicht zwingend, denn auch innerhalb einer Geschichte der deutschen Gesamtgesellschaft wäre dies zu leisten.

Allein durch die Quellen sind historische Ereignisse zu rekonstruieren, alles andere sind mehr oder weniger treffende Interpretationen, welche wiederum an den Quellen zu messen sind. Meine Arbeit wird darin bestehen, von historischen Theorien ausgehend, Fragen an die Quellen zu stellen und die sich daraus ergebenden Antworten mit Hilfe der Fachliteratur zu werten. Den theoretischen und praktischen Vorarbeiten wird in den Unterpunkten 1. bis 4. Raum gegeben. Durch die ausführliche Erläuterung der Arbeitsschritte, insbesondere der statistischen Auswertung, sind die präsentierten Ergebnisse nachprüfbar.

Der Umfang des vorhandenen, statistisch ausgewerteten Materials erlaubt in dieser Arbeit leider nur eine erste holzschnittartige Skizzierung der Lebenswelten der Häftlinge der Leuchtenburg. Nur die detailliertere Auswertung der Häftlingslisten, der Vergleich mit weiteren Quellen des Altenburger Staatsarchivs sowie die Gegenüberstellung von ähnlich, statistisch arbeitenden Untersuchungen verspricht ein klareres Bild der Lebenswelten unterbürgerlicher Schichten. Das weite Feld der noch in diesem Material steckenden Analysemöglichkeiten wird in den weiterführenden Fragestellungen (12) skizziert.




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