1.1 Erkenntnisleitende Interessen



Die ursprüngliche Antriebskraft der meisten historischen Arbeiten ist ein Bemühen um ein eingehenderes Verständnis gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse (13). Eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte dieser Epoche ist oft zunächst eine Beschäftigung mit der preußischen Geschichte (14) auf Grund der ihr zugeschriebenen fundamentalen Prägekraft für die deutsche Geschichte. Regionalgeschichtliche Untersuchungen liefern ihren Beitrag zum besseren Verständnis der Heterogenität des Reiches.

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Randgruppen der Gesellschaft, Arme, Geisteskranke und vor allem Kriminelle sowie der kleine, eher rückständige Territorialstaat Sachsen-Altenburg in Thüringen. Die Rekonstruktion der lebensweltlichen Entwürfe der Randgruppen und der Blick von einem recht unbedeutenden Kleinstaat aus dienen dem besseren Verständnis der inneren Zusammenhänge der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts.

Für diese Zeit sind im Diskurs der historischen Forschung häufig vor allem die Ideen der Eliten präsent. Das ergibt sich aus der Quellenlage. Die Beschäftigung mit dem Diskurs von Eliten verspricht zunächst ein tieferes Verständnis der "großen" Geschichte (15).

Historische Aussagen über die Lebenswelten von Unterschichten erfordern mühsame und sehr zeitaufwendige empirische Untersuchungen. Die zu erwartenden Ergebnisse erhellen "nur" einige Mosaiksteine des inneren Gefüges der Gesellschaft. Diese erlauben jedoch einen Blick auf die sozialökonomischen und mentalitätsgeschichtlichen Ursachen der allgemeinen Trends der gesellschaftlichen Entwicklung.

In komplexen Gesellschaften existieren unterschiedliche Normensysteme nebeneinander. Delinquenz wird durch Herrschaft definiert. "Kriminalität war Verstoß gegen geltendes Recht; die Erfahrungen und Motive der Täter blieben unterbelichtet..." (16). Das Alltagsleben der Delinquenten "bildet sich auf der Ebene alltäglicher Delikte konkret ab" (17). Hierbei wird es vor allem nötig sein, nicht nur ökonomische und psychische Notsituationen, sondern vor allem die Aspekte des Handelns der Unterschichten herauszuarbeiten. Die Handelnden zeigen die vielen vertikalen und horizontalen Spannungslinien innerhalb ihrer Lebenswelt sowie die Konfliktbereiche mit ihrem Umfeld auf. "Im Verbrechen artikuliert sich eine Offensive von Unterschichten gegen ihre Abbuchung auf der Verlustrechnung der modernen Gesellschaft. Diese Offensive bezog ihre Kraft aus dem Alltagsleben" (18). Der "Dauerhaftigkeit struktureller sozialer Ungleichheit" (19) wird nachgespürt, um die Lebenschancen dieser Menschen besser in das Blickfeld zu rücken. "Die Zufriedenheitspotentiale, die ein lebensweltlich gegründeter Alltag auch in seiner Defensive hatte, die Legitimität, die ein Staat trotz seiner belastenden Eingriffe in alltägliche Lebensbereiche besaß, dürfen aus einer Analyse von Kriminalität nicht ausgeblendet werden" (20).

Die Vaganten und die Kriminellen des 18./19. Jahrhunderts treten uns selten als Autoren, sondern meist nur indirekt als Objekte, von Eliten beschrieben, entgegen. Das ist auch für das 20. Jahrhundert noch weitgehend zutreffend.

Die vorliegende Arbeit ist eine Vorarbeit zur Rekonstruktion der Lebenswelten von unterbürgerlichen Schichten. Die statistische Auswertung der Personendaten von 5195 Delinquenten macht die Bedingungen für das strafbare Handeln der Häftlinge transparenter. Es wird gezeigt, wie die Gesellschaft entsprechend ihres jeweiligen Entwicklungsstandes strafbares Handeln durchaus unterschiedlich definiert. Dies ermöglicht einen Einblick in den inneren Zustand der Gesellschaft.

Der Vorteil einer statistischen Auswertung der Häftlingsverzeichnisse besteht unter anderem auch darin, daß die Auswahl der illustrierenden Aussagen über einzelne Häftlinge nicht auf Grund der "emotionellen Entrüstung" erfolgt. Die statistische Auswertung belegt für den Häftling, ob er eher ein Sonderfall ist oder ob er einer Gruppe von signifikanter Bedeutung zuzuordnen ist.

In dem sich aus der Quelle ergebenden Zeithorizont der Arbeit (1724-1871) fand ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel statt. Mit dem Blick auf die Delinquenten ist dem Wandel ihrer Erfahrungen und Motive nachzugehen. Der gesellschaftliche Wandel von der ständisch gebundenen Gesellschaft des frühen 18. Jahrhunderts bis zur Industrialisierung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wird verfolgt. Einzelne Aspekte der lebensweltlichen Kontinuitäten und Brüche der Unterschichten (21) können durch die Quellen aufgezeigt werden. Die sozialökonomische Struktur der Gesellschaft wandelte sich in dieser Zeit grundlegend. "Der Übergang von einer vorherrschenden Landwirtschaftsproduktion zu einer vorherrschenden Industrieproduktion ... (und) der Übergang von einer vorherrschenden ländlichen Arbeits- und Lebensweise zu einer vorherrschend städtischen Arbeits- und Lebensweise" (22) kennzeichnet diesen die Gesellschaft gravierend umgestaltenden Prozeß. Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich nicht allein auf die Jahrzehnte einer beschleunigten gesellschaftlichen Veränderung (23) bzw. des Umbruchs - der industriellen Revolution (24). Für die vorindustrielle Gesellschaft ermöglicht es die große Zeitspanne besonders gut, einige Konfliktlinien der Epoche herauszuarbeiten. Zeiten der irreversiblen Beschleunigung des Modernisierungsprozesses der Lebenswelten der Delinquenten sind zu bestimmen. Die Auswirkungen der Modernisierung auf die Geschlechterrollen reißt die Arbeit nur an.

Auch scheint die Unterschichtenforschung (25) bzw. die vielfach vernachlässigte historische Kriminologie (26) gegenüber den klassischen Feldern der Politik-, Sozial- und Wirtschafts- sowie Kulturgeschichte noch unterrepräsentiert.

Bisherige Untersuchungen zur Armut erhellten vor allem die städtischen und staatlichen Motive, Ziele und Maßnahmen. Die Lebenswelt der Armen blieb eher unterbelichtet (27). Außerdem interessierten mich die Möglichkeiten und der Nutzen statistischer Arbeiten für die historische Forschung (28).

Eine weitere wesentliche Motivation für die Arbeit besteht in der sich anbietenden konkreten musealen Umsetzung der historischer Forschung. Die Leuchtenburg ist heute ein Museum. Die Zuchthausausstellung soll neu gestaltet werden. Die Arbeit ist eine wissenschaftliche Vorarbeit für die Konzeption der Ausstellung. Mit den museumsspezifischen Mitteln und Methoden können die Ergebnisse der historischen Forschung für die Besucher erlebbar gemacht werden.




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