Die ursprüngliche Antriebskraft der meisten historischen Arbeiten ist ein Bemühen um ein eingehenderes Verständnis gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse (13). Eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte dieser Epoche ist oft zunächst eine Beschäftigung mit der preußischen Geschichte (14) auf Grund der ihr zugeschriebenen fundamentalen Prägekraft für die deutsche Geschichte. Regionalgeschichtliche Untersuchungen liefern ihren Beitrag zum besseren Verständnis der Heterogenität des Reiches.
Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Randgruppen der Gesellschaft, Arme, Geisteskranke
und vor allem Kriminelle sowie der kleine, eher rückständige Territorialstaat Sachsen-Altenburg in Thüringen. Die Rekonstruktion der lebensweltlichen Entwürfe der Randgruppen
und der Blick von einem recht unbedeutenden Kleinstaat aus dienen dem besseren Verständnis
der inneren Zusammenhänge der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts.
Für diese Zeit sind im Diskurs der historischen Forschung häufig vor allem die Ideen der Eliten präsent. Das ergibt sich aus der Quellenlage. Die Beschäftigung mit dem Diskurs von Eliten verspricht zunächst ein tieferes Verständnis der "großen" Geschichte (15).
Historische Aussagen über die Lebenswelten von Unterschichten erfordern mühsame und sehr
zeitaufwendige empirische Untersuchungen. Die zu erwartenden Ergebnisse erhellen "nur"
einige Mosaiksteine des inneren Gefüges der Gesellschaft. Diese erlauben jedoch einen Blick
auf die sozialökonomischen und mentalitätsgeschichtlichen Ursachen der allgemeinen Trends
der gesellschaftlichen Entwicklung.
In komplexen Gesellschaften existieren unterschiedliche Normensysteme nebeneinander.
Delinquenz wird durch Herrschaft definiert. "Kriminalität war Verstoß gegen geltendes Recht;
die Erfahrungen und Motive der Täter blieben unterbelichtet..." (16). Das Alltagsleben der
Delinquenten "bildet sich auf der Ebene alltäglicher Delikte konkret ab" (17). Hierbei wird es
vor allem nötig sein, nicht nur ökonomische und psychische Notsituationen, sondern vor allem
die Aspekte des Handelns der Unterschichten herauszuarbeiten. Die Handelnden zeigen die
vielen vertikalen und horizontalen Spannungslinien innerhalb ihrer Lebenswelt sowie die
Konfliktbereiche mit ihrem Umfeld auf. "Im Verbrechen artikuliert sich eine Offensive von
Unterschichten gegen ihre Abbuchung auf der Verlustrechnung der modernen Gesellschaft.
Diese Offensive bezog ihre Kraft aus dem Alltagsleben" (18). Der "Dauerhaftigkeit struktureller
sozialer Ungleichheit" (19) wird nachgespürt, um die Lebenschancen dieser Menschen besser in
das Blickfeld zu rücken. "Die Zufriedenheitspotentiale, die ein lebensweltlich gegründeter
Alltag auch in seiner Defensive hatte, die Legitimität, die ein Staat trotz seiner belastenden
Eingriffe in alltägliche Lebensbereiche besaß, dürfen aus einer Analyse von Kriminalität nicht
ausgeblendet werden" (20).
Die Vaganten und die Kriminellen des 18./19. Jahrhunderts treten uns selten als Autoren,
sondern meist nur indirekt als Objekte, von Eliten beschrieben, entgegen. Das ist auch für das
20. Jahrhundert noch weitgehend zutreffend.
Die vorliegende Arbeit ist eine Vorarbeit zur Rekonstruktion der Lebenswelten von
unterbürgerlichen Schichten. Die statistische Auswertung der Personendaten von 5195
Delinquenten macht die Bedingungen für das strafbare Handeln der Häftlinge transparenter. Es
wird gezeigt, wie die Gesellschaft entsprechend ihres jeweiligen Entwicklungsstandes
strafbares Handeln durchaus unterschiedlich definiert. Dies ermöglicht einen Einblick in den
inneren Zustand der Gesellschaft.
Der Vorteil einer statistischen Auswertung der Häftlingsverzeichnisse besteht unter anderem
auch darin, daß die Auswahl der illustrierenden Aussagen über einzelne Häftlinge nicht auf
Grund der "emotionellen Entrüstung" erfolgt. Die statistische Auswertung belegt für den
Häftling, ob er eher ein Sonderfall ist oder ob er einer Gruppe von signifikanter Bedeutung
zuzuordnen ist.
In dem sich aus der Quelle ergebenden Zeithorizont der Arbeit (1724-1871) fand ein
grundlegender gesellschaftlicher Wandel statt. Mit dem Blick auf die Delinquenten ist dem
Wandel ihrer Erfahrungen und Motive nachzugehen. Der gesellschaftliche Wandel von der
ständisch gebundenen Gesellschaft des frühen 18. Jahrhunderts bis zur Industrialisierung in der
2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wird verfolgt. Einzelne Aspekte der lebensweltlichen
Kontinuitäten und Brüche der Unterschichten (21) können durch die Quellen aufgezeigt werden.
Die sozialökonomische Struktur der Gesellschaft wandelte sich in dieser Zeit grundlegend.
"Der Übergang von einer vorherrschenden Landwirtschaftsproduktion zu einer
vorherrschenden Industrieproduktion ... (und) der Übergang von einer vorherrschenden
ländlichen Arbeits- und Lebensweise zu einer vorherrschend städtischen Arbeits- und
Lebensweise" (22) kennzeichnet diesen die Gesellschaft gravierend umgestaltenden Prozeß. Der
Untersuchungszeitraum konzentriert sich nicht allein auf die Jahrzehnte einer beschleunigten
gesellschaftlichen Veränderung (23) bzw. des Umbruchs - der industriellen Revolution (24). Für
die vorindustrielle Gesellschaft ermöglicht es die große Zeitspanne besonders gut, einige
Konfliktlinien der Epoche herauszuarbeiten. Zeiten der irreversiblen Beschleunigung des
Modernisierungsprozesses der Lebenswelten der Delinquenten sind zu bestimmen. Die
Auswirkungen der Modernisierung auf die Geschlechterrollen reißt die Arbeit nur an.
Auch scheint die Unterschichtenforschung (25) bzw. die vielfach vernachlässigte historische Kriminologie (26) gegenüber den klassischen Feldern der Politik-, Sozial- und Wirtschafts- sowie Kulturgeschichte noch unterrepräsentiert.
Bisherige Untersuchungen zur Armut erhellten vor allem die städtischen und staatlichen
Motive, Ziele und Maßnahmen. Die Lebenswelt der Armen blieb eher unterbelichtet (27).
Außerdem interessierten mich die Möglichkeiten und der Nutzen statistischer Arbeiten für die
historische Forschung (28).
Eine weitere wesentliche Motivation für die Arbeit besteht in der sich anbietenden konkreten
musealen Umsetzung der historischer Forschung. Die Leuchtenburg ist heute ein Museum. Die
Zuchthausausstellung soll neu gestaltet werden. Die Arbeit ist eine wissenschaftliche Vorarbeit
für die Konzeption der Ausstellung. Mit den museumsspezifischen Mitteln und Methoden
können die Ergebnisse der historischen Forschung für die Besucher erlebbar gemacht werden.
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