Einen stark theoretisch orientierten Ansatz macht Foucault mit "Überwachen und Strafen" für die Kriminalitätsforschung verfüg-
bar (29). Die Darstellungsweise Foucaults entspricht nicht der von Wehler geforderten "Diskussionsrationalität" (30). Die zentralen Aussagen müssen teilweise mühsam aus wohlklingender Prosa geschält werden. Foucault entwickelt aus seiner speziellen Machtdefinition (31) das Bild eines "Kerker-Archipel(s) ... (der) diese Technik (Disziplinierung d. Verf.) vom Justizapparat auf den gesamten Gesellschaftskörper" (32) überträgt. Die Macht ist die zentrale Kategorie, von der aus erklärt wird. Die überzeichnete zugrunde liegende These des Disziplinarindividuums entwertet die Arbeit, besonders für die Auswertung meiner Quellen. "In dieser zentralen und zentralisierten Humanität, die Effekt und Instrument komplexer Machtbeziehungen ist, sind Körper und Kräfte durch vielfältige `Einkerkerungs´-Anlagen unterworfen und für Diskurse objektiviert, die selber Elemente der Strategie sind. In dieser Humanität ist das Donnerrollen der Schlacht nicht zu überhören." (33) Sicher führten zeitgeschichtliche und individuelle Beweggründe zu dieser Überzeichnung (34). Der von Foucault gewählte Untersuchungszeitraum deckt sich weitgehend mit dem meiner Arbeit. Dies würde das vergleichende Heranziehen der Ergebnisse Foucaults empfehlen. Eine lebensweltliche Rekonstruktion des Körpers des Delinquenten ist in Foucaultschen Termini möglich durch die Rekonstruktion der diesen Körper konstituierenden Macht. Einen interessanten Gegenstand führt Foucault damit in die historische Forschung ein. Der Machtbegriff ist amorph, weit und erscheint mir für die historische Analyse eher unhandlich. Die Erklärung der Gesellschaft aus einer zentralen Kategorie heraus mag philosophisch ein produktiver Ansatz sein.
Für die historische Forschung stellt sich, mit der Erklärung aus einer zentralen Kategorie heraus, die Gefahr unzulässiger Verkürzungen historischer Lebensumstände. Die sich aus der Delinquenz abzeichnenden vertikalen und horizontalen Spannungen sind mit der Vorstellung von einem alles umschließenden und durchdringenden "Kerker-Archipels" sicher nur sehr begrenzt zu fassen und nur innerhalb des speziellen Begriffsapparates nachvollziehbar. Die Komplexität der Geschichte wird ausgeblendet.
Das Nebeneinanderstehen von Wirtschafts-, Politik-, Sozial-, und Kulturgeschichte in der
Gesellschaftsgeschichte vermag es dagegen besser, der Quelle angemessener, sich dem zu
verstehenden historischen Fall jeweils entsprechend angepaßt zu nähern.
Die Arbeit geht von den in den Anstalten lebenden Häftlingen aus. Nicht der Alltag in den
Anstalten interessiert, sondern die Gesellschaft, die diese Menschen als kriminell definierte.
Der Geschichte der Anstalten (35) wird auf Grund dessen in der Arbeit nur insoweit
nachgegangen, wie dies für das Verständnis der Lebenswelten der Häftlinge notwendig
erscheint. Andere Anstaltsgeschichten gehen von den Intentionen der Gründer der Anstalten
aus. Auf diese Weise ist es möglich, ein pointiertes theoretisches Profil einer Anstalt bzw.
eines Anstaltstypes herauszuarbeiten (36). Die Differenz zwischen den theoretisch fixierten
Anstaltstypen und der Wirklichkeit wird schnell deutlich, wenn man fragt, wer und warum in
die jeweilige Anstalt eingewiesen wurde. Die Zuchthäuser wurden in der Regel zunächst
gegründet, um Gassenbetteln und liederlichen Lebenswandel abzuschaffen. Neben der Gruppe
der Vaganten, Bettler, Trinker, Arbeitslosen und Prostituierten wies man jedoch meist auch
Häftlinge mit anderen Delikten (z.B.: Diebstahl, Kindesmord, Widerstand gegen die Obrigkeit)
oder gar Irre in die Zuchthäuser ein. In der Arbeit wird gefragt, ob Unterschiede in der
sozialen Zusammensetzung der Häftlinge in den einzelnen Anstalten nachzuweisen sind. Die
statistisch herausgearbeiteten Unterschiede werden mit den Intentionen, die andere Studien für
vergleichbare Anstalten nachgewiesen haben, verglichen.
Ayaß untersucht die Insassen des Arbeitshauses Breitenau. Er wertete die Einweisungslisten
statistisch aus (37). Leider ist sein Untersuchungszeitraum nicht mit dem dieser Arbeit identisch.
Die ähnliche methodische Herangehensweise hätte den Vergleich der Ergebnisse nahegelegt.
Die in der Arbeit aufgezeigten Entwicklungslinien des Umgangs mit Delinquenz und
Randgruppen werden auf Grund des begrenzten Raumes der Arbeit, nicht durch das
Hinzuziehen der Ergebnisse von Ayaß bis in das Jahr 1949 hinein verlängert. Andere
vergleichbare statistisch arbeitenden Studien (38) existieren meines Wissens nach für den
Untersuchungszeitraum bisher nicht (39).
Dem Ansatz der vorliegenden Arbeit kommt die Untersuchung Mayers nahe. Mayer beschreibt die Insassen der St.Gallener Anstalten. Seine Quellenbasis ist jedoch eine andere (40).
Aus Pfrundbüchern, Protokollen des Kleinen und Großen Rates, Steuerlisten etc. trug der
Autor Daten über die 2158 Anstaltsinsassen der Stadt St.Gallen für den Zeitraum von 1750 bis
1798, in einem sicher sehr arbeitsaufwendigen und vielversprechenden (41) Verfahren,
zusammen (42). Das Heiliggeist-Spital, die Prestenhäuser und das Fremdenspital verzeichneten
die größte Anzahl der Insassen. Im Zucht- und Waisenhaus waren nur 23,3% (43) der
untersuchten Personen interniert. Ein Teil der Häftlinge des Zucht- und Waisenhauses nutzte
das Zuchthaus als freiwilliges Arbeitshaus. Freiwillige Eintritte in die Leuchtenburger
Anstalten sind nicht nachweisbar. Ein Waisenhaus existierte auf der Leuchtenburg nicht. Ein
Vergleich der Insassen der St.Galler Anstalten mit denen auf der Leuchtenburg zeigt die
Ähnlichkeiten im Umgang mit den Randgruppen der Gesellschaft durch das Ancien Régime.
Auch die Unterschiede zwischen dem ländlich geprägten Sachsen Altenburg und dem Stadtstaat St.Gallen (44) werden deutlich. Die Arbeit konzentriert sich auf die Leuchtenburger
Häftlinge.
Die Quellenbasis der anderen Monographien einzelner Anstalten bzw. zusammenfassender
Darstellungen des Anstaltswesens (45) sind nicht die statistische Aufbereitung der Verzeichnisse
der Insassen, sondern es sind andere Akten der Verwaltung. Ergebnisse der Studie Mayers
bzw. anderer Zuchthausmonographien fließen in der Auswertung nur partiell für notwendige
Vergleiche mit ein.
Bereits Zeitgenossen beschrieben den Alltag in den Zuchthäusern und die zur Gründung der Anstalten führenden Intentionen. Wagnitz versteht seine Monographien über die deutschen Zuchthäuser (46) als Ergänzung und Erweiterung zu den Untersuchungen Howards (47).
Wagnitz ist ein genauer Beobachter, der die beschriebenen Zuchthäuser meist auch in
Augenschein genommen hat. Er beschreibt zum Teil äußerst plastisch die Haftbedingungen (48)
in den einzelnen Zuchthäusern. Der Autor war Zuchthausdirektor in Halle und versuchte mit
seinen Schriften die Zustände in den Gefängnissen zu verbessern und dies ganz im
aufklärerischen Geist (49) des 18. Jahrhunderts. Leider fehlt ein Bericht über die Leuchtenburg.
Er nennt die Leuchtenburg nur einmal direkt: "Freylich giebt es demohnerachtet noch manche
Anstalten, von denen wir gar keine Nachrichten haben, wie z.B. von der Oldenburg zu Gera,
auf der Leuchtenburg u.a." (50). Wagnitz meint, daß die Zustände in den sächsischen Anstalten
Waldheim, Torgau, Zwickau und Leipzig vorbildlich seien. "So schickte z.B. der Herzog von
Gotha 1721 eigene Deputirte nach Waldheim, um das Institut und die Einrichtungen desselben
genau kennen zu lernen, damit man sie bey Anlegung einer ähnlichen Anstalt im Fürstenthum
Altenburg desto glücklicher nachahmen könnte." (51) Zwischen 1720-1724 (52) erfolgte der
Umbau der Leuchtenburg zum Zuchthaus. Das Zuchthaus in Waldheim scheint somit eines der
unmittelbaren Vorbilder für die Leuchtenburger Anstalt zu sein.
Zunächst war es die Bekämpfung alles liederlichen, ledigen Bettelgesindes und deren Besserung durch die Unterweisung in einem guten Handwerk (53), wie es in dem kurfürstlichen Edikt zum Spandowischen Zucht- und Spinnhaus formuliert wird. "Aspekte der armenpolizeilichen Bettelbekämpfung wie der merkantilistischen Wirtschaftsförderung stehen bei den frühen preußischen Zuchthausgründungen im Vordergrund" (54).
Die Doppelstrategie, "durch Anhaltung zur Arbeit abschreckend und bessernd zugleich zu
wirken", (55) ist nicht nur für die erste Gründung eines Zuchthauses (Bridewell, 1555)
nachzuweisen, sondern ist beispielgebend für die späteren Amsterdamer Anstalten wie auch
die in den protestantischen deutschen Territorien und dem katholischen Habsburgerreich (56).
"Gleichermassen besteht eine gute Zucht der Unterthanen darinn, daß keine Trunkenbolde, (n)
keine Zänker, keine Müßiggänger (o) und keine Bettler, (p) geduldet; sondern jene mittelst
ernstlicher Strafe zur Besserung gebracht, diese aber in dem Werk= und Zucht=Hause zur
Arbeit angehalten werden." (57)
In einem zeitgenössischen Geschichtsbuch wird ein weiterer Beweggrund für die Einrichtung
von Zuchthäusern deutlich: "Gleichwichtig und für den Urheber ungemein rühmlich war das
Rescript von Abschaffung der Tortur, das zu Ende des Jahres 1771. an die chursächsischen
Dicasterien erlassen wurde. Und weil dadurch in vielen Fällen, statt der bisher üblichen Tortur
und Landesverweisung, die Erkenntnis auf Zuchthaus= oder Festungsbaustrafe anbefohlen
worden: so beschloß der Churfürst, auf Ansuchen der Landstände, neben den bisherigen
Landesanstalten zu Waldheim und Torgau einige neue Zucht= und Arbeitshäuser anzulegen,
worin zugleich unnütze Bettler und Landstreicher verwahrt und ernährt werden sollten." (58)
Das Schloßgebäude in Torgau wurde zu einem Zucht- und Arbeitshaus 1772 ausgebaut und
1776 folgte das Zwickauer Schloß.
Die Intention, durch Arbeit in einem Zuchthaus abschreckend und bessernd zugleich zu
wirken, lag sicher auch der Gründung der Leuchtenburger Anstalt zugrunde (59). Die Delikte,
die hauptsächlich zur Einweisung führten, belegen diese Absicht. Soziale Straftaten führten
vor 1800 überwiegend zu einer Einweisung in die Leuchtenburger Anstalten. Zunächst wurden
vorrangig Bettler und Vagabunden in das Leuchtenburger Zuchthaus eingewiesen, die bestraft
und durch die Arbeit im Zuchthaus gebessert werden sollten. Ähnliches gilt sicher für
Diebstähle, die im 18. Jahrhundert teilweise noch peinlich verfolgt wurden (60). Eine
Einweisung in ein Zuchthaus war dann nur noch auf dem Weg der Gnade des Landesherren
möglich. Nach 1800 setzte sich als Bestrafung für Diebstähle eine Einweisung in ein Zucht-
oder Arbeitshaus durch.
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