4.5 Die Berufe der Delinquenten



Die Häftlingslisten geben für die meisten Häftlinge den Stand bzw. das Gewerbe an. Aus den Berufsbezeichnungen sind die Wirtschaftssektoren, in denen die Häftlinge tätig sind, abzuleiten. Außerdem ist der Grad der Ausbildung aus den Berufsbezeichnungen zu ermitteln. Der Ausbildungsgrad dient der Einordnung in soziale Schichten.



4.5.1 Die Wirtschaftssektoren



Im Untersuchungszeitraum verändern sich die Tätigkeiten der Unterschichten grundlegend. Für die Auswertung scheint problematisch, daß auch identische Berufsbezeichnungen zwischen 1724 und 1871 nicht mit gleichen lebensweltlichen Erfahrungen verbunden sind. Die vorherrschende landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit wird von der gewerblichen abgelöst (56). Der wirtschaftliche Umbau der Gesellschaft nach 1800 spiegelt sich in drastisch veränderten Anteilen der Wirtschaftssektoren, in denen die Häftlinge tätig sind, wider.

Vor 1800 ist die überwiegende Zahl der Häftlinge in der Landwirtschaft tätig (36,8%). Die Beschäftigung im Gewerbe mit der klaren Zuordnung zu handwerklichen Betriebsformen (23,0%) ist der zweite entscheidende Wirtschaftssektor, der den Lebensunterhalt der Delinquenten sichert. Die anderen gewerblichen Betriebsformen können mit 17 Häftlingen vernachlässigt werden. "Erst mit dem Beginn der Industrialisierung am Ende der 1830er Jahre fingen die gewerblichen Verhältnisse in Deutschland allmählich an, sich grundlegend zu wandeln" (57).

Nach 1825 ist die Gruppe der Häftlinge, die in gewerblichen Betrieben tätig ist, die nicht handwerklich organisiert sind, erstmals überproportional stark vertreten, nach 1835 wächst diese Gruppe sprungartig (58).


(59)

Der Anteil der im Dienstleistungsgewerbe tätigen Häftlinge verringert sich von 16,1% vor 1800 auf 11,5% nach 1800.

Die gravierendste Veränderung findet jedoch in der Landwirtschaft einerseits und im Gewerbe andererseits statt. D.h., daß die gewerbliche Produktion überproportional wächst und die Industrie neu entsteht. Die landwirtschaftliche Produktion wird vom Gewerbe als Leitsektor abgelöst. Quantitativ wachsen in der Landwirtschaft die Erträge beträchtlich, jedoch nicht im gleichen Umfang wie im Gewerbe. Die große Bedeutung der Landwirtschaft läßt sich für den untersuchten lokalen Bereich auch noch 1869 an der Marktordnung der Stadt Kahla ablesen (60). Der gesamtgesellschaftliche Wandel beginnt sich nach 1800 beschleunigt durchzusetzen und findet auch seinen Ausdruck in einer veränderten Erwerbsstruktur der Unterschichten. Die Beschäftigung im gewerblichen Sektor nimmt rasant zu.


Gewerbe Landwirtschaft
vor 1800 23,0% 36,8%
nach 1800 62,5% 19,9%

(61)


Gewerbe ohne Handwerk Landwirtschaft
vor 1800 1,0% 36,8%
nach 1800 28,0% 19,9%

(62)


Für den Zeitraum vor 1800 gibt Pierenkemper ein Verhältnis zwischen Landwirtschaft und Gewerbe von 62% zu 21% an (63). Daß die Gruppe der Häftlinge, die in der Landwirtschaft vor 1800 tätig war sehr viel kleiner ist, als die aus dem von Pierenkemper angegebenen gesamtgesellschaftlichen Verhältnis zu erwartende Anzahl, scheint verschiedene Ursachen zu haben. Die innerhalb des ständischen Aufbaus der Gesellschaft fest integrierten Personen scheinen wesentlich seltener kriminell gewesen zu sein. Der Polizeiapparat bekämpfte vorzugsweise Randgruppen, diese waren auch überproportional in der Leuchtenburger Anstalt vertreten. Sicher trug hierzu auch bei, daß kleinere Vergehen von Mitgliedern der Dorfgemeinschaft vor 1800 eher innerhalb des Dorfes "bereinigt" wurden. Bauern, die in Thüringen meist auch die Eigentümer des von ihnen bearbeiteten Landes waren, tendieren offensichtlich relativ seltener zu Straftaten. Denn der landwirtschaftliche Betrieb, die Grundlage der Versorgung der Familie, ist ohne die Arbeitskraft aller Familienmitglieder nicht überlebensfähig. Der Hof ernährte die Dienstknechte und -mägde, so daß diese nur im Falle der Arbeitslosigkeit auf die selbständige Subsistenzsicherung angewiesen waren.

Einem abrupten gesellschaftlichen Wandel steht zunächst die relative Stabilität im dörflichen Zusammenleben vor und nach 1800 entgegen. Die Arbeit der Familie auf dem Hof bildet die Subsistenzgrundlage, Knechte und Mägde bleiben im Hof integriert. Das rapide Bevölkerungswachstum wird hauptsächlich vom Gewerbe aufgefangen. Vor allem diese Bevölkerungsgruppe wohnt nun eher zur Miete. Jedoch auch die Zahl der Beschäftigten im Handwerk verdreifachte sich nahezu zwischen 1800 und 1900 (64). Drastische und für einige Berufsgruppen sehr schmerzhafte Wandlungen in der inneren Zusammensetzung des Handwerks vollzogen sich in diesem Zeitraum. Die sich durchsetzende Industrie verdrängte das Verlagswesen fast vollständig.

Nach 1800 kehrt sich das Verhältnis zwischen den Häftlingen, die landwirtschaftlich oder gewerblich tätig sind, um. Die Volkszählung vom 3. Dezember 1867 in Sachsen-Altenburg ergab eine Gesamtbevölkerung von 141.650, von denen 49.526 in Städten lebten (65). Die Mehrheit der Bevölkerung lebte auf dem Lande. Der Wandel der Erwerbsstruktur der Häftlinge zeigt, daß auch die Dörfer gewerblich durchdrungen waren. Vor allem für die Zeit vor 1850 ist von einem großen Anteil des Verlagswesens am Gewerbe auszugehen. Das Handwerk ist mit einer großen Vielfalt der Berufe (75) (66) in den Leuchtenburger Anstalten vertreten. Die Zahl der im Handwerk tätigen Häftlinge nimmt nach 1800 noch zu, jedoch nicht so drastisch wie die Zahl der Häftlinge in anderen gewerblichen Betriebsformen (67). Die im Handwerk Tätigen waren den Krisenerscheinungen des Handwerks, ausgelöst durch die partielle Ablösung handwerklicher Arbeit durch Fabrikarbeit, unterworfen.

Für die Zeit vor 1800 werden in der Quelle häufig Berufsbezeichnungen verwendet (21,8%), die nicht einem Wirtschaftssektor zuzuordnen sind. Hierunter fallen Bettler und Vaganten (unklar 8,9%), Soldaten, ehemalige Soldaten und Soldatenweiber (Militär 12,4%) und Zigeuner (Minderheit 0,5%). Nach 1800 schrumpft diese Häftlingsgruppe auf 2,3% zusammen. Dieser Wandel ist bedingt durch eine neue Einweisungspraktik in die Leuchtenburger Anstalten. Nicht mehr die außerhalb der Ständepyramide lebenden "Randgruppen" (unklar = Bettler und Vagabunden, Militär "arbeitslose Soldaten", Minderheiten = Zigeuner) sind Ziel der Repression des Staates, sondern Personen, die den nun zunehmend bürgerlich kapitalistisch dominierten Staat durch Eigentumsdelikte angreifen.





4.5.2 Die Ausbildung



Die Berufe lassen den Grad der Ausbildung erkennen. Mit Hilfe des Ausbildungsgrades sind die Häftlinge sozialen Schichten zuzuordnen.


(68)

Eine Mehrheit der Häftlinge besitzt sicher Berufserfahrungen (know how). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein Wissen, das durch eine Ausbildung (Lehre, Schule oder Studium mit einer Prüfung) erworben wurde. Die Quellenlage erschwert eine genauere Bewertung des Wissens der Häftlinge, Unterscheidungen sind schwierig. Die Kenntnisse des Einzelnen sind schwer zu fassen. Dienstknechte lernten in ihrer Dienstzeit von ihrem Herren, wie dieser den Hof führte, um später einen eigenen Hof zu übernehmen. Inwieweit dieses "Ideal" zutreffend ist, kann durch die Quelle nicht nachgeprüft werden.

Als Differenzierungskriterium, ob ein Häftling einen Beruf erworben hat oder nicht, dient neben der Ausbildung, dem Erwerb von know how (vgl. Dienstknecht oder -magd), auch noch der Abschluß einer Prüfung (Gesellenstück, etc.). Diesen moderneren Kriterien für einen Beruf (69) entsprechen vor 1800 9,7% und nach 1800 20,3% der Häftlinge. Der sich durchsetzende Industriekapitalismus benötigt Arbeitskräfte, die eine abschätzbare, standardisierte Ausbildung haben. Dies gilt sicher vor allem zunächst für die Führungseliten, ist aber tendenziell auch für die hier untersuchten Unterschichten nachweisbar.

Gerade die sich im Handwerk vollziehenden Anpassungen an den Industriekapitalismus sicherten manchem Handwerksmeister kein "standesgemäßes" Leben. Die Situation verschärfte sich noch für die Handwerker durch den Niedergang des Verlagswesens nach 1800. Die übergroße Mehrheit der Häftlinge besaß jedoch noch nicht einmal einen solchen Beruf. Eine Grundlage bürgerlichen Lebens ist die Ausübung eines Berufes (mindestens eines Familienmitgliedes). Diesen Beruf hatten die meisten Häftlinge nicht. Fast die Hälfte der Häftlinge, die einen Beruf haben, sind Lehrlinge oder Gesellen, deren soziale Stellung sehr dürftig war. Somit meine ich, daß gut 90% der Häftlinge (die ohne Beruf sowie Lehrlinge und Gesellen) unterbürgerlichen Schichten zuzuordnen sind.





4.6 Die Schulbildung der Delinquenten



Eine "Besserung" der Gefangenen sollte erreicht werden durch Arbeit, seelsorgerische Betreuung und Unterricht (70).

Aus der Quelle sind erst ab 1852 Angaben zur Schulbildung zu entnehmen. Für knapp 1000 Häftlinge konnten die Lese- und Schreibkenntnisse und für 843 Häftlinge die Religionskenntnisse erfaßt werden. Die verbalen Einschätzungen der Kenntnisse der Häftlinge durch Pastor Leschke sind in ein Notenschema eingepaßt worden (71). Auffallend ist, daß auch für unterbürgerliche Schichten Lese- und Schreibkenntnisse die Regel sind. Lesen und Schreiben wurde mit Hilfe religiöser Schulbücher (72) gelehrt. Gute Religionskenntnisse sind durch den einseitigen religiös fixierten Unterricht zu erwarten und sind in dieser Zeit für breite Bevölkerungskreise typisch. Die Religionskenntnisse der Häftlinge sind jedoch wesentlich schlechter als deren Lese- und Schreibkenntnisse.

Lesekenntnisse
(73)

Schreibkenntnisse
(74)

Da die Pastoren die Häftlinge neben der seelsorgerischen Betreuung auch unterrichteten, hatten sie sicher einen guten Überblick über deren Wissensstand.

Pastor Langes Angaben zur Schulbildung sind zunächst sporadisch. Pastor Leschke (ab 1855) gibt den Bildungsstand fast jedes Häftlings an. Die Leserevolution der Jahrhundertwende wirkte auch in die unterbürgerlichen Schichten hinein (75). Das war möglich durch die besonders in lutherischen Gebieten bereits frühzeitig weit entwickelten Volksschulen (76). In Sachsen-Gotha gab "Wolfgang Ratke ... 1642 den 'Schulmethodus' heraus, der den Schulbesuch für alle 'Knaben und Mägdelein' im Alter von sechs bis zwölf Jahren festschrieb und deshalb als die 'Gründungsurkunde der deutschen Volksschule' gilt" (77). Dieses Programm wurde so erfolgreich umgesetzt, daß Fremde damals schrieben: "in den Ländern Herzog Ernstes seien die Bauern gescheiter als die Landedelleute in anderen Gegenden Deutschlands" (78). Sachsen-Altenburg fiel durch Erbgang 1672 an Sachsen-Gotha.

Daß die Religionskenntnisse (79) etwas schlechter als die Schulkenntnisse eingeschätzt werden, liegt sicher zunächst an dem kritischeren Blick des Pastors auf sie. Hinzu kommt, daß Häftlinge zum Teil entwurzelte Menschen sind und oft durch Schicksalsschläge ihren Glauben an Gott verloren haben. Auch können sich in ungenügenden Religionskenntnissen im Einzelfall Widerstände artikulieren. Im Gruppenverhalten der Häftlinge ist sicher nicht der fromme Kriminelle die Leitfigur. Dieses Zusammenspiel führte eher zu einer Distanz zur Religion als zu einer trostsuchenden Hinwendung.

Religionskenntnisse

(80)

29,7% der Häftlinge mit Angaben zu ihren Religionskenntnissen wird das Nichtvorhandensein dieser Kenntnisse bescheinigt. Deutlich geringer fällt dieses Urteil für die Lesekenntnisse (9,2%) (81) und Schreibkenntnisse (15,1%) (82) aus.

Befriedigende oder bessere Kenntnisse hatten im Lesen und Schreiben jeweils mehr als die Hälfte der untersuchten Häftlinge. Jedoch in den Religionskenntnissen erreichen nur 23,6% der Häftlinge vergleichbare Leistungen. Der Anteil der ungenügenden und genügenden Leistungen der Delinquenten ist in der Religion höher als im Lesen und Schreiben.




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