Vor 1800 ist die soziale Disziplinierung (15) überwiegend die Ursache für eine Einweisung auf
die Leuchtenburg. Die Agrarkrisen des 18. Jahrhunderts (1739/41, 1763, 1771/72) führen zu
einer Vermehrung der Vagantenzahl. Der geschätzte Vagantenanteil an der Bevölkerung von
10% (16) nimmt in Krisenzeiten zu, die Möglichkeiten und der Wille der Gesamtbevölkerung,
diese Menschen noch mit zu ernähren, nimmt ab. Eine größere Anzahl von Menschen muß
sich eine kleiner werdende Menge von Almosen teilen. Dies führt zur Abdrängung der
Randgruppen der Gesellschaft in die Kriminalität. Ein Teil der Bettler und Vaganten versucht
aktiv das Leben mit Diebstählen zu sichern, ein anderer Teil wird durch die Obrigkeit aufgegriffen und auf Grund sozialer Delikte abgeurteilt (17). Verstärkte polizeiliche
Gegenmaßnahmen sind die Folge der landwirtschaftlichen Krisen.
Die Agrarkrisen des 18. Jahrhunderts waren regional unterschiedlich ausgeprägt. Die Krisen
von 1739/41 und 1763 sind jeweils mit einem Anstieg der absoluten Einlieferungszahl im
ersten Krisenjahr um ca. 30% mehr gegenüber dem Vorjahr verbunden (18). Schwankungen der
absoluten Zahl der Eingelieferten um einen ähnlichen Faktor sind aber auch für andere Jahre
nachzuweisen. In den Krisenjahren 1739/41 gibt es eine Steigerung der Anzahl der wegen
Diebstahls Eingelieferten. Hervorstechend ist für die Krisenjahre 1771/72, daß eine Wende bei
den Delikten, die zur Einlieferung in die Anstalt führten, erkenntlich ist. 1771 ist das erste Jahr
seit Bestehen der Anstalt, in dem mehr als die Hälfte der Straftaten Diebstähle sind. Dieses
Phänomen ist bis 1775 zu beobachten, danach werden tendenziell (19) bis 1800 wieder mehr
Menschen wegen sozialer Delikte auf der Leuchtenburg inhaftiert. Zwischen 1801 und 1831
wechseln die Häufigkeiten der Ursachen für eine Einweisung in die Leuchtenburger Anstalten.
Bereits in diesem Zeitraum überwiegen aber die Eigentumsdelikte mit 2/3 (20). Ab 1832 bis
1870 werden Eigentumsvergehen zur Hauptursache der Einlieferung in die Leuchtenburger
Anstalten, mit Ausnahme der Revolutionsjahre 1848/49 und den sich anschließenden Jahren
1850/51 (21).
Wenn man die sozialen Delikte enger zusammenfaßt (22), kündigt sich die Wende in der
Deliktstruktur ebenfalls in den Krisenjahren 1771/1772 an. In den Jahren 1777 bis 1799 wird
etwas mehr als die Hälfte der Häftlinge auf Grund von sozialen Delikten inhaftiert. Ab 1800
werden bis zu den Revolutionsjahren 1848/49 nur in 3 Jahren (1810, 1820, 1831) mehr
Häftlinge auf Grund sozialer Delikte eingewiesen. Zwischen 1851 und 1870 überwiegen die
Eigentumsdelikte durchweg.
Die Einweisungsursachen für die "Randgruppen" (23) entsprechen tendenziell denen für die
Gesamtzahl der Häftlinge, auch unter Berücksichtigung der Veränderungen der Zeitachse. Vor
1800 (24) überwiegen auch für diese Häftlingsgruppe die sozialen Delikte als
Einweisungsursache sowie nach 1800 (25) die Eigentumsdelikte.
Der enge Zusammenhang zwischen der Anzahl der Diebstähle und den Schwankungen des
Roggenpreises (26) zeigt die starke Abhängigkeit der vorindustriellen Gesellschaft von den
Agrarkonjunkturen. Mißernten zwangen einen Teil der Bevölkerung, ihren Lebensunterhalt
durch Diebstähle zu sichern (27). Die Agrarkrisen des 18. Jahrhunderts sind jeweils mit einer
Zunahme der Einweisungen auf die Leuchtenburg verbunden.
Die Differenzierung der Anstalten verändert die Verteilung der einzelnen Deliktarten in den
jeweiligen nun mehr oder weniger professionalisierten Anstalten (28).
Aus den Vergehen, die zu einer Einweisung auf die Leuchtenburg führten, ist innerhalb der
Altersstruktur der Delinquenten eine deutliche Tendenz ersichtlich. Je älter die Häftlinge sind,
um so seltener werden sie wegen Eigentumsvergehen inhaftiert. Dies ist für den Zeitraum vor
und nach 1800 festzustellen, auch der Grad der Abweichung von ca. 25% zwischen
Jugendlichen (1-20 Jahre) und Alten (über 51 Jahre) ist identisch. Unterschiedlich ist das Ausgangsniveau des prozentualen Verhältnisses der Straftaten für den Zeitraum vor und nach
1800. Vor 1800 wurde etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen auf Grund von
Eigentumsdelikten eingewiesen, nach 1800 sind es 2/3 der Jugendlichen. (29)
Der mit einem höheren Alter verbundene höhere Anteil an sozialen Delikten verweist auf die
Desintegration alter Menschen in der Gesellschaft. Eigentumsvergehen wie auch soziale
Delikte können unter anderem aus Armut heraus erklärt werden. Wobei Eigentumsvergehen
mit Aktivität und Handeln verbunden sind. Widerstand gegen strukturelle Benachteiligungen
artikuliert sich aktiv in Diebstählen. Alten und gebrechlichen Menschen sind derartige aktive
Strategien in der Regel verschlossen. Sie leben oft obdachlos auf den Straßen. Sie sind
ausgestoßen von den Familien, die sie nicht ernähren bzw. pflegen können, falls diese Familien
überhaupt vorhanden waren. Viele Menschen der Unterschichten besaßen keine Familie, die
sich im Alter bzw. im Falle der Invalidität um sie hätte kümmern können. Auf Grund der
obrigkeitlichen Heiratsbeschränkungen (30) war es einem Großteil der Unterschichten zeitlebens
nicht möglich, eine Familie zu gründen (31).
Die in Sachsen-Altenburg gültigen Heiratsbeschränkungen sind nicht sehr rigide (32). 1740 sieht
eine "Beyfugen zur Landesordnung, Die Hochzeiten betreffend" (33) vor allem strenge
Auflagen für die Hochzeitsparty vor (34). Ehen bedürfen in dieser Landesordnung keiner
obrigkeitlichen Zustimmung, nur Ehen unter nahen Verwandten und ohne Einwilligung der
Eltern waren verboten (35). Eine Einwilligung des Lehnsherren war jedoch im Zusammenhang
mit dem Heiratsgut vorgesehen (36). Damit versuchte man, den dörflichen Bereich durch ein
gebremstes Bevölkerungswachstum zu stabilisieren.
Die standardisierten Residuen zeigen, daß überproportional viele alte Männer in die
Leuchtenburger Anstalten eingewiesen wurden (37). Dies ist kein Beleg dafür, daß alte Männer
ärmer (38) waren als alte Frauen. Die Straftaten, die zu einer Einweisung in die Leuchtenburger
Anstalten führten, unterscheiden sich für alte Frauen und Männer vor 1800 bzw. nach 1800
nur geringfügig (39). Hierzu stehen im Gegensatz die gravierenden Unterschiede zwischen
jungen Männern und Frauen (40). Von der Altersarmut sind beide Geschlechter betroffen. Die
arme Witwe ist geradezu ein Topos in Berichten über die Armut.
Mehrere Faktoren sind für den deutlichen Unterschied verantwortlich:
Die Lebenserwartung von Frauen war auf Grund der hohen Kindbettsterblichkeit (41) und
physischen Überbeanspruchung geringer als die der Männer (42). Ein Mädchenüberschuß bzw.
von Frauen im Heiratsalter wurde für einige Orte nachgewiesen (43). Andere Untersuchungen
müssen noch klären, ob der für einzelne Orte nachgewiesene Frauenüberschuß im Heiratsalter
dann "nur" durch deren höhere Sterblichkeit im Kindbett ausgeglichen wurde und somit von
gleich viel alten Frauen und Männern mit hohem Alter ausgegangen werden kann. "Der
Anstieg der Lebenserwartung von Jugendlichen und Erwachsenen nach 1650 ging mit einer
Verringerung der geschlechtsspezifischen Differenzen einher." (44) Die Möglichkeit, daß der
überproportionale Überschuß an alten Männern in den Leuchtenburger Anstalten auch auf die
unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen zurückzuführen sein könnte, ist
bei einer Bewertung mit in Betracht zu ziehen. Welchen Anteil die geschlechtsspezifisch
unterschiedliche Lebenserwartung auf die für die Leuchtenburger Häftlinge nachzuweisende
Differenz zwischen alten Frauen und Männern hat, muß eine Geschichte der alten Menschen in
der frühen Neuzeit noch klären (45).
"Zwischen Mann und Frau sind die Geschlechterrollen und die Arbeit streng geteilt, das ist
selbstverständlich." (46) Die traditionelle Arbeitsteilung öffnete den Frauen
Versorgungsmöglichkeiten, die alten Männern nur offen standen, wenn sie und auch ihr
Umfeld bereit waren umzulernen. Alte Frauen konnten sich in der Familie, trotz körperlicher
Gebrechlichkeit, durch die Beaufsichtigung der Enkel oder durch Küchenarbeiten nützlich
machen und blieben somit eher integriert. Die traditionellen Arbeitsfelder der Männer in
Landwirtschaft und Gewerbe erfordern eine hohe körperliche Leistungsfähigkeit. Mit dem
Verlust dieser und der nicht immer vorhandenen sozialen Integration bzw. der fehlenden
ökonomischen Möglichkeit der Familie, einen "unnützen Esser" mit zu versorgen, gerieten
Männer eher als Frauen in die Situation, daß die Leuchtenburger Anstalten als
Versorgungseinrichtung benutzt werden mußten. Traditionelle Geschlechterrollen bergen
somit nicht nur für Frauen Benachteiligungen.
Eine wesentlichere Ursache für die größere Anzahl alter Männer in den Leuchtenburger
Anstalten ist jedoch die Unterscheidung der Armen in "würdige" und "unwürdige" Arme. In
die Kategorie der "würdigen" Armen fallen "die geradezu klassischen Witwen" (47). D.h., daß
die Gruppe der älteren Frauen eher auf eine Unterstützung der Armenpflege hoffen konnten (48)
und somit seltener in die Leuchtenburger Anstalten eingewiesen wurden. Die große Gruppe
der alten Männer rekrutierte sich ursprünglich vorwiegend aus den "labouring poor", den
"unwürdigen" Armen (49), die durch Polizei- und Justizbehörden in Zucht- und Arbeitshäuser
eingewiesen wurden. Die Bremische Armenordnung definiert diese Gruppe der "frembden
Armen" als "Handwerksleut ..., Studenten und fahrende Schüler ..., viele Betagte und
Unvermögsame, Adlige, Prediger, Schuldiener, Manns- und Frauens-Personal allein oder mit
unerzogenen Kindern in allen Landen umherziehen(d)" (50). Den Armenvögten der Stadt kam
die Aufgabe zu, diese Menschen vom Betteln bei der Strafe des Gefängnisses abzuhalten (51).
Deutlich wird, daß ein Großteil der genannten Gruppe sich aus arbeitslosen Männern
zusammensetzt. Die alten Männer haben sicher meist schon eine sie kriminalisierende Laufbahn der Arbeitslosigkeit und Bettelei hinter sich (52). Die Relation zwischen Männern (76,3%)
und Frauen (23,7%) für alle Leuchtenburger Anstalten entspricht dem Verhältnis der auf
Grund von Armut in das Armenhaus eingewiesenen alten Männer (76,2%) und alten Frauen
(23,8%). Bezeichnend erscheint, daß in der kleinen Gruppe der Häftlinge, die über 51 Jahre ist
und die auf Grund von Armut, Alter oder Krankheit in die Leuchtenburger Strafanstalten
eingewiesen wurden (53), sich keine Frau befindet (54). Die Einweisungen erfolgten alle vor 1800
(55).
Weitreichende Schlüsse sind auf Grund der geringen Zahl der Fälle nicht zulässig, tendenziell zeichnet sich jedoch folgendes ab:
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