4.3 Deliktarten zwischen 1724 und 1871



Vor 1800 ist die soziale Disziplinierung (15) überwiegend die Ursache für eine Einweisung auf die Leuchtenburg. Die Agrarkrisen des 18. Jahrhunderts (1739/41, 1763, 1771/72) führen zu einer Vermehrung der Vagantenzahl. Der geschätzte Vagantenanteil an der Bevölkerung von 10% (16) nimmt in Krisenzeiten zu, die Möglichkeiten und der Wille der Gesamtbevölkerung, diese Menschen noch mit zu ernähren, nimmt ab. Eine größere Anzahl von Menschen muß sich eine kleiner werdende Menge von Almosen teilen. Dies führt zur Abdrängung der Randgruppen der Gesellschaft in die Kriminalität. Ein Teil der Bettler und Vaganten versucht aktiv das Leben mit Diebstählen zu sichern, ein anderer Teil wird durch die Obrigkeit aufgegriffen und auf Grund sozialer Delikte abgeurteilt (17). Verstärkte polizeiliche Gegenmaßnahmen sind die Folge der landwirtschaftlichen Krisen.

Die Agrarkrisen des 18. Jahrhunderts waren regional unterschiedlich ausgeprägt. Die Krisen von 1739/41 und 1763 sind jeweils mit einem Anstieg der absoluten Einlieferungszahl im ersten Krisenjahr um ca. 30% mehr gegenüber dem Vorjahr verbunden (18). Schwankungen der absoluten Zahl der Eingelieferten um einen ähnlichen Faktor sind aber auch für andere Jahre nachzuweisen. In den Krisenjahren 1739/41 gibt es eine Steigerung der Anzahl der wegen Diebstahls Eingelieferten. Hervorstechend ist für die Krisenjahre 1771/72, daß eine Wende bei den Delikten, die zur Einlieferung in die Anstalt führten, erkenntlich ist. 1771 ist das erste Jahr seit Bestehen der Anstalt, in dem mehr als die Hälfte der Straftaten Diebstähle sind. Dieses Phänomen ist bis 1775 zu beobachten, danach werden tendenziell (19) bis 1800 wieder mehr Menschen wegen sozialer Delikte auf der Leuchtenburg inhaftiert. Zwischen 1801 und 1831 wechseln die Häufigkeiten der Ursachen für eine Einweisung in die Leuchtenburger Anstalten. Bereits in diesem Zeitraum überwiegen aber die Eigentumsdelikte mit 2/3 (20). Ab 1832 bis 1870 werden Eigentumsvergehen zur Hauptursache der Einlieferung in die Leuchtenburger Anstalten, mit Ausnahme der Revolutionsjahre 1848/49 und den sich anschließenden Jahren 1850/51 (21).

Wenn man die sozialen Delikte enger zusammenfaßt (22), kündigt sich die Wende in der Deliktstruktur ebenfalls in den Krisenjahren 1771/1772 an. In den Jahren 1777 bis 1799 wird etwas mehr als die Hälfte der Häftlinge auf Grund von sozialen Delikten inhaftiert. Ab 1800 werden bis zu den Revolutionsjahren 1848/49 nur in 3 Jahren (1810, 1820, 1831) mehr Häftlinge auf Grund sozialer Delikte eingewiesen. Zwischen 1851 und 1870 überwiegen die Eigentumsdelikte durchweg.

Die Einweisungsursachen für die "Randgruppen" (23) entsprechen tendenziell denen für die Gesamtzahl der Häftlinge, auch unter Berücksichtigung der Veränderungen der Zeitachse. Vor 1800 (24) überwiegen auch für diese Häftlingsgruppe die sozialen Delikte als Einweisungsursache sowie nach 1800 (25) die Eigentumsdelikte.

Der enge Zusammenhang zwischen der Anzahl der Diebstähle und den Schwankungen des Roggenpreises (26) zeigt die starke Abhängigkeit der vorindustriellen Gesellschaft von den Agrarkonjunkturen. Mißernten zwangen einen Teil der Bevölkerung, ihren Lebensunterhalt durch Diebstähle zu sichern (27). Die Agrarkrisen des 18. Jahrhunderts sind jeweils mit einer Zunahme der Einweisungen auf die Leuchtenburg verbunden.

Die Differenzierung der Anstalten verändert die Verteilung der einzelnen Deliktarten in den jeweiligen nun mehr oder weniger professionalisierten Anstalten (28).



4.4 Deliktarten in Abhängigkeit vom Lebensalter zwischen 1724 und 1871



Aus den Vergehen, die zu einer Einweisung auf die Leuchtenburg führten, ist innerhalb der Altersstruktur der Delinquenten eine deutliche Tendenz ersichtlich. Je älter die Häftlinge sind, um so seltener werden sie wegen Eigentumsvergehen inhaftiert. Dies ist für den Zeitraum vor und nach 1800 festzustellen, auch der Grad der Abweichung von ca. 25% zwischen Jugendlichen (1-20 Jahre) und Alten (über 51 Jahre) ist identisch. Unterschiedlich ist das Ausgangsniveau des prozentualen Verhältnisses der Straftaten für den Zeitraum vor und nach 1800. Vor 1800 wurde etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen auf Grund von Eigentumsdelikten eingewiesen, nach 1800 sind es 2/3 der Jugendlichen. (29)

Der mit einem höheren Alter verbundene höhere Anteil an sozialen Delikten verweist auf die Desintegration alter Menschen in der Gesellschaft. Eigentumsvergehen wie auch soziale Delikte können unter anderem aus Armut heraus erklärt werden. Wobei Eigentumsvergehen mit Aktivität und Handeln verbunden sind. Widerstand gegen strukturelle Benachteiligungen artikuliert sich aktiv in Diebstählen. Alten und gebrechlichen Menschen sind derartige aktive Strategien in der Regel verschlossen. Sie leben oft obdachlos auf den Straßen. Sie sind ausgestoßen von den Familien, die sie nicht ernähren bzw. pflegen können, falls diese Familien überhaupt vorhanden waren. Viele Menschen der Unterschichten besaßen keine Familie, die sich im Alter bzw. im Falle der Invalidität um sie hätte kümmern können. Auf Grund der obrigkeitlichen Heiratsbeschränkungen (30) war es einem Großteil der Unterschichten zeitlebens nicht möglich, eine Familie zu gründen (31).

Die in Sachsen-Altenburg gültigen Heiratsbeschränkungen sind nicht sehr rigide (32). 1740 sieht eine "Beyfugen zur Landesordnung, Die Hochzeiten betreffend" (33) vor allem strenge Auflagen für die Hochzeitsparty vor (34). Ehen bedürfen in dieser Landesordnung keiner obrigkeitlichen Zustimmung, nur Ehen unter nahen Verwandten und ohne Einwilligung der Eltern waren verboten (35). Eine Einwilligung des Lehnsherren war jedoch im Zusammenhang mit dem Heiratsgut vorgesehen (36). Damit versuchte man, den dörflichen Bereich durch ein gebremstes Bevölkerungswachstum zu stabilisieren.

Die standardisierten Residuen zeigen, daß überproportional viele alte Männer in die Leuchtenburger Anstalten eingewiesen wurden (37). Dies ist kein Beleg dafür, daß alte Männer ärmer (38) waren als alte Frauen. Die Straftaten, die zu einer Einweisung in die Leuchtenburger Anstalten führten, unterscheiden sich für alte Frauen und Männer vor 1800 bzw. nach 1800 nur geringfügig (39). Hierzu stehen im Gegensatz die gravierenden Unterschiede zwischen jungen Männern und Frauen (40). Von der Altersarmut sind beide Geschlechter betroffen. Die arme Witwe ist geradezu ein Topos in Berichten über die Armut.

Mehrere Faktoren sind für den deutlichen Unterschied verantwortlich:

Die Lebenserwartung von Frauen war auf Grund der hohen Kindbettsterblichkeit (41) und physischen Überbeanspruchung geringer als die der Männer (42). Ein Mädchenüberschuß bzw. von Frauen im Heiratsalter wurde für einige Orte nachgewiesen (43). Andere Untersuchungen müssen noch klären, ob der für einzelne Orte nachgewiesene Frauenüberschuß im Heiratsalter dann "nur" durch deren höhere Sterblichkeit im Kindbett ausgeglichen wurde und somit von gleich viel alten Frauen und Männern mit hohem Alter ausgegangen werden kann. "Der Anstieg der Lebenserwartung von Jugendlichen und Erwachsenen nach 1650 ging mit einer Verringerung der geschlechtsspezifischen Differenzen einher." (44) Die Möglichkeit, daß der überproportionale Überschuß an alten Männern in den Leuchtenburger Anstalten auch auf die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen zurückzuführen sein könnte, ist bei einer Bewertung mit in Betracht zu ziehen. Welchen Anteil die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Lebenserwartung auf die für die Leuchtenburger Häftlinge nachzuweisende Differenz zwischen alten Frauen und Männern hat, muß eine Geschichte der alten Menschen in der frühen Neuzeit noch klären (45).

"Zwischen Mann und Frau sind die Geschlechterrollen und die Arbeit streng geteilt, das ist selbstverständlich." (46) Die traditionelle Arbeitsteilung öffnete den Frauen Versorgungsmöglichkeiten, die alten Männern nur offen standen, wenn sie und auch ihr Umfeld bereit waren umzulernen. Alte Frauen konnten sich in der Familie, trotz körperlicher Gebrechlichkeit, durch die Beaufsichtigung der Enkel oder durch Küchenarbeiten nützlich machen und blieben somit eher integriert. Die traditionellen Arbeitsfelder der Männer in Landwirtschaft und Gewerbe erfordern eine hohe körperliche Leistungsfähigkeit. Mit dem Verlust dieser und der nicht immer vorhandenen sozialen Integration bzw. der fehlenden ökonomischen Möglichkeit der Familie, einen "unnützen Esser" mit zu versorgen, gerieten Männer eher als Frauen in die Situation, daß die Leuchtenburger Anstalten als Versorgungseinrichtung benutzt werden mußten. Traditionelle Geschlechterrollen bergen somit nicht nur für Frauen Benachteiligungen.

Eine wesentlichere Ursache für die größere Anzahl alter Männer in den Leuchtenburger Anstalten ist jedoch die Unterscheidung der Armen in "würdige" und "unwürdige" Arme. In die Kategorie der "würdigen" Armen fallen "die geradezu klassischen Witwen" (47). D.h., daß die Gruppe der älteren Frauen eher auf eine Unterstützung der Armenpflege hoffen konnten (48) und somit seltener in die Leuchtenburger Anstalten eingewiesen wurden. Die große Gruppe der alten Männer rekrutierte sich ursprünglich vorwiegend aus den "labouring poor", den "unwürdigen" Armen (49), die durch Polizei- und Justizbehörden in Zucht- und Arbeitshäuser eingewiesen wurden. Die Bremische Armenordnung definiert diese Gruppe der "frembden Armen" als "Handwerksleut ..., Studenten und fahrende Schüler ..., viele Betagte und Unvermögsame, Adlige, Prediger, Schuldiener, Manns- und Frauens-Personal allein oder mit unerzogenen Kindern in allen Landen umherziehen(d)" (50). Den Armenvögten der Stadt kam die Aufgabe zu, diese Menschen vom Betteln bei der Strafe des Gefängnisses abzuhalten (51). Deutlich wird, daß ein Großteil der genannten Gruppe sich aus arbeitslosen Männern zusammensetzt. Die alten Männer haben sicher meist schon eine sie kriminalisierende Laufbahn der Arbeitslosigkeit und Bettelei hinter sich (52). Die Relation zwischen Männern (76,3%) und Frauen (23,7%) für alle Leuchtenburger Anstalten entspricht dem Verhältnis der auf Grund von Armut in das Armenhaus eingewiesenen alten Männer (76,2%) und alten Frauen (23,8%). Bezeichnend erscheint, daß in der kleinen Gruppe der Häftlinge, die über 51 Jahre ist und die auf Grund von Armut, Alter oder Krankheit in die Leuchtenburger Strafanstalten eingewiesen wurden (53), sich keine Frau befindet (54). Die Einweisungen erfolgten alle vor 1800 (55).

Weitreichende Schlüsse sind auf Grund der geringen Zahl der Fälle nicht zulässig, tendenziell zeichnet sich jedoch folgendes ab:






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