1.4 Rechtshistorischer Kontext



"Den größten Theil des ältesten teutschen Rechts machten aber freylich hergebrachte Sitten und Gewohnheiten aus" (95). Das Gewohnheitsrecht (96) war ungeschrieben. Mündlich werden die alten Gewohnheiten überliefert und von Zeugen vor Gericht belegt. Die Gewohnheitsrechte sind eher ein Recht und Billigkeit abwägendes Fallrecht.

Die alten Gewohnheiten wurden in Spiegeln, Landrechten und Landrechtsbüchern gesammelt. "Die berühmteste Sammlung alter teutscher Gewohnheiten ist der Sachsenspiegel" (97) und das kaiserliche Land- und Lehnsrecht, auch als Schwabenspiegel (98) bezeichnet. In derartigen Gesetzessammlungen sind sicher nur Teile der Gewohnheitsrechte aufgezeichnet.

Im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht ist das römische Recht geschriebenes Recht. Weitere ältere Bestandteile des Rechts sind Kapitularien der Kaiser oder Könige sowie Formelsammlungen, Musterbücher, Schöffensprüche und Weistümer der Oberhöfe sowie die schriftlich fixierten Urkunden. Die mündlich tradierten Gewohnheitsrechte erhielten sich das Mittelalter hindurch und bestimmten zusammen mit dem dominanten römischen Recht und weiteren schriftlich fixierten Urkunden und Rechtssammlungen die regionale Rechtspraxis.

Das römische Recht wurde an den Universitäten gelehrt. Advokaten und Richter durchliefen diese Ausbildung. Die Rechtspraxis wird von Personen mit diesen Berufen bestimmt. Über die Jahrhunderte konnte sich damit das römische Recht gegenüber den mündlich tradierten Gewohnheitsrechten durchsetzen. Dem römischen Erbe verdankt das europäische Recht seine Rationalität, den hohen Grad an Formalismus, kurz seine Vorausberechenbarkeit. Der Rechtsapparat ist von "rituell-religiöse(n) und magische(n) Gesichtspunkte(n)" (99) entkleidet und kann so dem Einzelnen eine hohe Verkehrssicherheit bieten. Diese Entwicklung verlief nicht konfliktfrei und wurde gerade von den Unterschichten oft nicht als positiv erfahren, sondern war für sie mit hohen sozialen Kosten verbunden. Beispielsweise in den Auseinandersetzungen, um die Allmende konnten sich die alt hergebrachten Gewohnheiten letztlich nicht behaupten.

Die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532 ist das einheitliche Strafgesetzbuch des deutschen Reiches (100). Die Carolina beruht vor allem auf dem römischen Erbe. Das Strafrecht setzt gesetzlich Strafen fest für Handlungen, die noch nicht begangen wurden. D.h., das "Verbotene" ist strafbar, alles andere ist erlaubt.

Ein häufig untersuchter Gegenstand der Rechtsgeschichte ist Preußen. An diesem Beispiel ist die sich im 18. Jahrhundert vollziehende Entwicklung zu einem modernen Rechtsstaat nachzuzeichnen. Preußen fällt hierbei innerhalb des deutschen Raumes eine Vorreiterrolle zu. In der Regierungszeit Friedrich II. von Preußen wurde die Gerichtsverfassung vereinheitlicht, der Instanzenzug vereinfacht und abgekürzt, und der König verzichtet weitgehend darauf, in die Rechtsprechung einzugreifen. Besonders Letzteres führte zu einer Stärkung der Gerichte. Wesentliche Vorarbeiten für das als Entwurf 1784 veröffentlichte und 1794 eingeführte Allgemeine Landrecht (ALR) in Preußen wurden geleistet. Trotz der mit dem ALR verbundenen Modernisierungen zementierte es jedoch altständisch-aristokratische Privilegien.

Ein wesentlicher Innovationsschub bzw. eine Revolutionierung für die Entwicklung des Rechts in Deutschland ging vom Code Civil vom März 1804 (101) aus. Unverändert wurde der Code Civil nur in den französischen linksrheinischen Gebieten sowie Westfalen und Berg eingeführt. Für die Rechtsreformen in den einzelnen Territorialstaaten war er zumindest eine Meßlatte und Orientierungspunkt. In Preußen gelang es den Reformern, in der Ausnahmesituation von 1808 einen Sieg für die Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit zu erringen (102). Die Trennung von Verwaltung und Justiz wurde prinzipiell eingeleitet und nach 1848 endgültig durchgesetzt. Es führte "die Abgrenzung von Justiz- und Verwaltungsaufgaben nicht nur (zu) eine(r) positive(n) politischen Entwicklung zugunsten der individuellen Rechtssicherheit, sondern auch zu eine(m) sozioökonomischen Prozeß wie (der) Entfaltung des industriellen Produktionskapitalismus" (103).

Von weitreichender normativer Bedeutung war der in der Paulskirche entwickelte Grundrechtekatalog für die deutsche Verfassungspolitik. Auch wenn das Werk am 23. August 1851 durch den Bundestag aufgehoben wurde, war dieses Erbe der Paulskirche nicht mehr aus der Welt zu schaffen (104). Für Preußen wurde im Januar 1849 die Gerichtsverfassung reformiert. Moderne Standards der Rechtsverfahren wurden durchgesetzt, so das öffentliche und mündliche Verfahren, die Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft und auch Geschworenengerichte wurden in die Urteilsfindung einbezogen. Mit der Strafrechtsreform Preußens vom 14. April 1851 wurde "mehr als ein alter Zopf ... abgeschnitten" (105).

Die Entwicklung der Rechtsnormen ist für die Strafpraxis entscheidend. Die 1705 erlassene Altenburger Landesordnung wurde 1742 unverändert neu aufgelegt. Bestandteil der Landesordnung von 1705 ist auch das Strafrecht.

Im Jahre 1744 ist in Sachsen-Altenburg die Prozeßordnung neu erläutert und veröffentlicht worden (106). Der altständisch-aristokratische Privilegienstaat bestimmte bis zu den 1831 begonnenen Reformen das Recht in Sachsen-Altenburg. Die Einberufung des Landtages 1831 führte zu ständisch-konstitutionellen Reformen in Sachsen-Altenburg. Das am 29.04.1831 verabschiedete Grundgesetz von Sachsen-Altenburg schaffte die ständische Verfassung ab und legte die Grundlage für eine konstitutionelle Monarchie. Das Grundgesetz war jedoch noch konservativ befangen. Erst im Ergebnis der Revolution von 1848 und des Abdankens von Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg konnte das gleiche und direkte Wahlrecht eingeführt werden und eine neue fortschrittlicher orientierte Verfassung verabschiedet werden (107). Damit wurden nun auch in Sachsen-Altenburg moderne Fachministerien gebildet. Die Verwaltungs- und Justizbehörden wurden getrennt (108) und die Patrimonialgerichtsbarkeit des Gutsbesitzeradels (109) wurde aufgehoben. Obwohl 1848/49 die Thüringer Einigungsbestrebungen scheiterten, kam es 1850 zur Verabschiedung des gemeinsamen Strafgesetzbuches der Thüringer Staaten. Im Ergebnis der auch für Sachsen-Altenburg gescheiterten Revolution von 1848/49 fanden jedoch ganz wesentliche Modernisierungen der Verfassung (110) und des Strafrechtes (111) statt.

Eine Auswahl der in Sachsen-Altenburg straffällig Gewordenen ist auf der Leuchtenburg zu finden (112). Deutlich wird die Auswahl der Eingewiesenen am Beispiel des Holzdiebstahls, dem "zentrale(n) Massendelikt im 19. Jahrhundert" (113). Die Häftlingslisten enthalten kaum Delinquenten mit dieser Straftat. D.h., daß diese Deliktgruppe nicht durch die Quellen erschlossen werden kann. Weitere Quellen (114) wären hierzu in die Untersuchung mit einzubeziehen und könnten für das gewählte Beispiel zeigen, daß der Holzdiebstahl auch im Altenburger Raum eine wichtige Rolle im Leben der Unterschichten spielte. Der sich aus der statistischen Auswertung der Akten ergebende Umfang des Materials ist bereits für die Magisterarbeit wesentlich eingeschränkt worden, so daß weitere Quellen erst in einer späteren detaillierteren Auswertung der Häftlingslisten mit hinzugezogen werden.

Die Einlieferungspraxis und die Rechtsnormen wandelten sich während des Betriebes der Leuchtenburger Anstalten wesentlich. Eine Rechtsgeschichte, die den Wandlungen der Rechtsnormen Sachsen-Altenburgs nachgeht, liefert die Arbeit nicht (115). Kriminalität wird in dieser Arbeit nicht als ein juristisches, sondern als soziales Phänomen untersucht. Die Beschäftigung mit den Verstößen gegen geltendes Recht soll die unterschiedlichen nebeneinander existierenden Lebenswelten der Gesellschaft ansatzweise erhellen helfen. Der in der Arbeit aufgezeigte Wandel der Strafpraxis spiegelt die gesellschaftlichen Veränderungen wider. Damit kommen die sozialen und herrschaftlichen Ursachen für Kriminalität in den Blick.




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