"Den größten Theil des ältesten teutschen Rechts machten aber freylich hergebrachte Sitten
und Gewohnheiten aus" (95).
Das Gewohnheitsrecht (96) war ungeschrieben.
Mündlich werden
die alten Gewohnheiten überliefert und von Zeugen vor Gericht belegt. Die
Gewohnheitsrechte sind eher ein Recht und Billigkeit abwägendes Fallrecht.
Die alten Gewohnheiten wurden in Spiegeln, Landrechten und Landrechtsbüchern gesammelt.
"Die berühmteste Sammlung alter teutscher Gewohnheiten ist der Sachsenspiegel" (97) und das
kaiserliche Land- und Lehnsrecht, auch als Schwabenspiegel (98) bezeichnet. In derartigen
Gesetzessammlungen sind sicher nur Teile der Gewohnheitsrechte aufgezeichnet.
Im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht ist das römische Recht geschriebenes Recht. Weitere
ältere Bestandteile des Rechts sind Kapitularien der Kaiser oder Könige sowie
Formelsammlungen, Musterbücher, Schöffensprüche und Weistümer der Oberhöfe sowie die
schriftlich fixierten Urkunden. Die mündlich tradierten Gewohnheitsrechte erhielten sich das
Mittelalter hindurch und bestimmten zusammen mit dem dominanten römischen Recht und
weiteren schriftlich fixierten Urkunden und Rechtssammlungen die regionale Rechtspraxis.
Das römische Recht wurde an den Universitäten gelehrt. Advokaten und Richter durchliefen
diese Ausbildung. Die Rechtspraxis wird von Personen mit diesen Berufen bestimmt. Über die
Jahrhunderte konnte sich damit das römische Recht gegenüber den mündlich tradierten
Gewohnheitsrechten durchsetzen. Dem römischen Erbe verdankt das europäische Recht seine
Rationalität, den hohen Grad an Formalismus, kurz seine Vorausberechenbarkeit. Der
Rechtsapparat ist von "rituell-religiöse(n) und magische(n) Gesichtspunkte(n)" (99) entkleidet
und kann so dem Einzelnen eine hohe Verkehrssicherheit bieten. Diese Entwicklung verlief
nicht konfliktfrei und wurde gerade von den Unterschichten oft nicht als positiv erfahren, sondern war für sie mit hohen sozialen Kosten verbunden. Beispielsweise in den
Auseinandersetzungen, um die Allmende konnten sich die alt hergebrachten Gewohnheiten
letztlich nicht behaupten.
Die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532 ist das
einheitliche Strafgesetzbuch des deutschen Reiches (100). Die Carolina beruht vor allem auf dem
römischen Erbe. Das Strafrecht setzt gesetzlich Strafen fest für Handlungen, die noch nicht
begangen wurden. D.h., das "Verbotene" ist strafbar, alles andere ist erlaubt.
Ein häufig untersuchter Gegenstand der Rechtsgeschichte ist Preußen. An diesem Beispiel ist
die sich im 18. Jahrhundert vollziehende Entwicklung zu einem modernen Rechtsstaat
nachzuzeichnen. Preußen fällt hierbei innerhalb des deutschen Raumes eine Vorreiterrolle zu.
In der Regierungszeit Friedrich II. von Preußen wurde die Gerichtsverfassung vereinheitlicht,
der Instanzenzug vereinfacht und abgekürzt, und der König verzichtet weitgehend darauf, in
die Rechtsprechung einzugreifen. Besonders Letzteres führte zu einer Stärkung der Gerichte.
Wesentliche Vorarbeiten für das als Entwurf 1784 veröffentlichte und 1794 eingeführte
Allgemeine Landrecht (ALR) in Preußen wurden geleistet. Trotz der mit dem ALR
verbundenen Modernisierungen zementierte es jedoch altständisch-aristokratische Privilegien.
Ein wesentlicher Innovationsschub bzw. eine Revolutionierung für die Entwicklung des Rechts
in Deutschland ging vom Code Civil vom März 1804 (101) aus. Unverändert wurde der Code
Civil nur in den französischen linksrheinischen Gebieten sowie Westfalen und Berg eingeführt.
Für die Rechtsreformen in den einzelnen Territorialstaaten war er zumindest eine Meßlatte und
Orientierungspunkt. In Preußen gelang es den Reformern, in der Ausnahmesituation von 1808
einen Sieg für die Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit zu erringen (102). Die Trennung von
Verwaltung und Justiz wurde prinzipiell eingeleitet und nach 1848 endgültig durchgesetzt. Es
führte "die Abgrenzung von Justiz- und Verwaltungsaufgaben nicht nur (zu) eine(r)
positive(n) politischen Entwicklung zugunsten der individuellen Rechtssicherheit, sondern
auch zu eine(m) sozioökonomischen Prozeß wie (der) Entfaltung des industriellen
Produktionskapitalismus" (103).
Von weitreichender normativer Bedeutung war der in der Paulskirche entwickelte
Grundrechtekatalog für die deutsche Verfassungspolitik. Auch wenn das Werk am 23. August
1851 durch den Bundestag aufgehoben wurde, war dieses Erbe der Paulskirche nicht mehr aus
der Welt zu schaffen (104). Für Preußen wurde im Januar 1849 die Gerichtsverfassung
reformiert. Moderne Standards der Rechtsverfahren wurden durchgesetzt, so das öffentliche
und mündliche Verfahren, die Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft und auch
Geschworenengerichte wurden in die Urteilsfindung einbezogen. Mit der Strafrechtsreform
Preußens vom 14. April 1851 wurde "mehr als ein alter Zopf ... abgeschnitten" (105).
Die Entwicklung der Rechtsnormen ist für die Strafpraxis entscheidend. Die 1705 erlassene Altenburger Landesordnung wurde 1742 unverändert neu aufgelegt. Bestandteil der Landesordnung von 1705 ist auch das Strafrecht.
Im Jahre 1744 ist in Sachsen-Altenburg die Prozeßordnung neu erläutert und veröffentlicht
worden (106). Der altständisch-aristokratische Privilegienstaat bestimmte bis zu den 1831
begonnenen Reformen das Recht in Sachsen-Altenburg. Die Einberufung des Landtages 1831
führte zu ständisch-konstitutionellen Reformen in Sachsen-Altenburg. Das am 29.04.1831
verabschiedete Grundgesetz von Sachsen-Altenburg schaffte die ständische Verfassung ab und
legte die Grundlage für eine konstitutionelle Monarchie. Das Grundgesetz war jedoch noch
konservativ befangen. Erst im Ergebnis der Revolution von 1848 und des Abdankens von
Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg konnte das gleiche und direkte Wahlrecht eingeführt
werden und eine neue fortschrittlicher orientierte Verfassung verabschiedet werden (107). Damit
wurden nun auch in Sachsen-Altenburg moderne Fachministerien gebildet. Die Verwaltungs-
und Justizbehörden wurden getrennt (108) und die Patrimonialgerichtsbarkeit des
Gutsbesitzeradels (109) wurde aufgehoben. Obwohl 1848/49 die Thüringer
Einigungsbestrebungen scheiterten, kam es 1850 zur Verabschiedung des gemeinsamen
Strafgesetzbuches der Thüringer Staaten. Im Ergebnis der auch für Sachsen-Altenburg gescheiterten Revolution von 1848/49 fanden jedoch ganz wesentliche Modernisierungen der
Verfassung (110) und des Strafrechtes (111) statt.
Eine Auswahl der in Sachsen-Altenburg straffällig Gewordenen ist auf der Leuchtenburg zu
finden (112). Deutlich wird die Auswahl der Eingewiesenen am Beispiel des Holzdiebstahls, dem
"zentrale(n) Massendelikt im 19. Jahrhundert" (113). Die Häftlingslisten enthalten kaum
Delinquenten mit dieser Straftat. D.h., daß diese Deliktgruppe nicht durch die Quellen
erschlossen werden kann. Weitere Quellen (114) wären hierzu in die Untersuchung mit
einzubeziehen und könnten für das gewählte Beispiel zeigen, daß der Holzdiebstahl auch im
Altenburger Raum eine wichtige Rolle im Leben der Unterschichten spielte. Der sich aus der
statistischen Auswertung der Akten ergebende Umfang des Materials ist bereits für die
Magisterarbeit wesentlich eingeschränkt worden, so daß weitere Quellen erst in einer späteren
detaillierteren Auswertung der Häftlingslisten mit hinzugezogen werden.
Die Einlieferungspraxis und die Rechtsnormen wandelten sich während des Betriebes der
Leuchtenburger Anstalten wesentlich. Eine Rechtsgeschichte, die den Wandlungen der
Rechtsnormen Sachsen-Altenburgs nachgeht, liefert die Arbeit nicht (115). Kriminalität wird in
dieser Arbeit nicht als ein juristisches, sondern als soziales Phänomen untersucht. Die
Beschäftigung mit den Verstößen gegen geltendes Recht soll die unterschiedlichen
nebeneinander existierenden Lebenswelten der Gesellschaft ansatzweise erhellen helfen. Der in
der Arbeit aufgezeigte Wandel der Strafpraxis spiegelt die gesellschaftlichen Veränderungen
wider. Damit kommen die sozialen und herrschaftlichen Ursachen für Kriminalität in den
Blick.
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